thierrymoosbrugger

Ich zügle meinen Blog

Ab sofort gilt für meinen Blog folgende Adresse.

www.moosbrugger.me

Alle Artikel habe ich von hier nach da mitgezügelt, vieles sieht ähnlich aus.
Als erster neuer Artikel, der thematisch passt: „Der Wechsel“;
und die Realisierung eines alten Kindheitstraums von mir:
Der Käpt’n-Haddock-Fluchgenerator.

Schön, wenn Sie mir folgen.

 

Kein Masterplan – finally

Jetzt will ich mal dieses Verseni sehen 2015, Teil 18.

„Nein, es gab keinen Masterplan.“ So begann der Bericht über die Rumänienreise 2015. Danach habe ich mich treiben lassen von den einzelnen Erlebnissen, bin schreibend durch die Woche, durch Geschichten und Erzählungen mäandert wie die Moldova durch den Nordosten Rumäniens.

Der Lauf der Moldau ist immer wieder anders. Wie das Leben.

Der Lauf der Moldau ist immer wieder anders. Wie das Leben.

Und so ist auch Verseni, so ist das Projekt „verseni.ch“, so ist die Entwicklung Rumäniens: Es ist nicht systematisch planbar, Vorhaben sind nicht deduktiv umsetzbar, immer wieder kommt eine unverhoffte oder unerwartete Wendung. Und ja, es ist ein Prozess, der ständig wieder neu angepasst werden muss. In der Geschichte mit Verseni muss jedes Jahr wieder neu in der Gruppe und mit Ipate geschaut werden, was gelernt wurde, was im nächsten Jahr anders gemacht werden kann oder muss.

Die Weitsicht liegt vor allem in der Offenheit und im Vertrauen, dass der Fluss immer genug Wasser erhält, dass es weitergeht, und dass der Weg hinter der nächsten Wendung des Flusslaufs immer weiter geht. Irgendwie.

Die Wege in Rumänien sind selten gerade. Den Weg nach Verseni werde ich immer wieder finden. - Foto: Anne Burgmer.

Die Wege in Rumänien sind selten gerade. Den Weg nach Verseni werde ich immer wieder finden. – Foto: Anne Burgmer.

 

Kinderheime schliessen

Jetzt will ich mal dieses Verseni sehen 2015, Teil 16.

Um in die EU zu kommen, war Rumänien vor zehn Jahren schlichtweg zu allem bereit. Eine der vielen Auflagen war es, „das Heimkinderproblem in den Griff zu bekommen.“ – Die Forderung war gestellt, die konkrete Unterstützung dabei zwischen marginal und Null, und so verstand Rumänien die Forderung so: Wir müssen die Zahl der Heimkinder senken.

Zwei Wege wurden danach eingeschlagen: Kinder in Pflegefamilien verquanten und Kinderheime schliessen – und zack!, die Zahlen waren gesenkt, die EU zufrieden, die Realität eine vernachlässigbare Variable. Faktisch waren beide Wege so untauglich wie verheerend für das Leben der Kinder: In so genannten „Pflegefamilien“ ging es ihnen als rumänische Neuauflage von „Verdingkindern“ noch viel schlechter als in Kinderheimen, und eine sechsstellige Zahl ehemaliger Kinderheimkindern lebte nun einfach auf der Strasse (aber tauchten ebenfalls nicht in Statistiken auf – judihui!).

Kinder aus dem Dorf, aus dem Heim, aus der Schweiz, im Spiel vereint.

Kinder aus dem Dorf, aus dem Heim, aus der Schweiz, im Spiel vereint.

Für ein Heim wie Verseni heisst das: seit zehn Jahren ist das Heim konstant komplett voll, und regelmässig kommen Anfragen vom Staat, ob Ipate nicht „übergangsmässig“ diese zwei Mädchen oder jene drei Brüder aufnehmen könne – selbstverständlich ohne dass er dafür auch mehr Personal oder zusätzlichen Wohnraum erhielte.

Wie bei seiner letzten Idee, man könnte hinter dem Sportplatz noch zwei Häuser bauen. Denn das Feld dort gehört dem Kinderheim. Im Winter könnten zusätzlich Kinder dort wohnen, im Sommer (wenn viele Kinder bei ihren Eltern sind) könnte man die beiden „Vile“ als Lagerhaus für Kinder aus Stadtheimen benützen.

– Man ahnt die offizielle Reaktion: „Gute Idee – aber wir haben kein Geld dafür.“

Magazie… multifunctional!

Jetzt will ich mal dieses Verseni sehen 2015, Teil 15.

Das neuste Projekt ist ein Bau, 9×11 Meter. Die Initialzündung kam durch eine Verkettung von glücklichen Umständen zustande und wurde geplant als Magazin für diverses Material. Doch schon beim Aushecken der Idee dachte Ipate weiter. Denn er wusste: das älteste der drei Häuser, in dem Kinder wohnen, ist derart baufällig, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es zusammenfällt.

Die Erzieher: Ein Schlüssel für den Erfolg Versenis.

Die Erzieher: Ein Schlüssel für den Erfolg Versenis.

Seine langjährigen Mahnungen wurden von der Regierung nie erhört, und für Ipate ist klar, was das bedeutet: Sollte das Haus „Nicolai“ nicht mehr bewohnbar sein, werden die 12 Kinder versetzt, es wird kein neues Haus gebaut, und er muss fünf bis sechs Angestellte entlassen.

„Lieber nehme ich die Strapazen auf mich, zwei neue Häuser zu bauen, als dass ich meine Angestellten entlassen muss“, sagt Ipate mit einer Mischung aus Lachen und sichtbarem Horror vor dieser Vorstellung.

Also baute er das Magazin von vornerein mit Fenstern und einer Raumaufteilung, das es dereinst bewohnbar macht. Wobei er schon nach Kurzem kaum eine Minute mehr dran dachte, jemals Material darin zu versorgen.

Alles für die Kinder.

Alles für die Kinder.

Sein Chef aus der Kantonshauptstadt Iasi weiss mittlerweile, wie der Hase in Verseni läuft, aber zwichendurch spielt er eben doch das alte Spiel. So steht er bei einem Besuch in Verseni in den Rohbau hinein und fragt Ipate: „So, jetzt zeig mir mal, wo kommt nun welches Material hin?“ – Ipate, überrascht von der Frage, muss improvisieren: „Also hier kommt, eehm, Kleidung, in diesen Raum da kommen Esswaren, dort kommt Mobiliar, und dort alles andere.“ – Der Chef fragt streng weiter und zeigt auf das künftige Bad: „Und was kommt hier hinein?“ Ipate beginnt schon zu erfinden, da komme das Büro des Verwalters hin, da fällt ihm der Chef lachend ins Wort und sagt „Ach hör schon auf, ich weiss doch genau, dass das Blödsinn ist, und das ist ja schon gut.“ – Und so absurd es klingen mag, für Ionel ist diese Geschichte ein riesiger Schritt in die Freiheit, wo die sinnlosen Gesetze zwar noch intakt sind, aber seine Vorgesetzten sich faktisch auf seine Seite geschlagen haben.

Not wird Tugend (oder so…)

Jetzt will ich mal dieses Verseni sehen 2015, Teil 14.

Um in Rumänien zu überleben, hat Versenis Heimleiter Ipate gelernt, die rumänische Kultur zu nutzen. Mittlerweile die Mehrzahl der Bauten stehen da, ohne dass er eine Baubewilligung dafür gehabt hätte. Denn er weiss: ein Gebäude, das mal steht, wird nicht mehr abgerissen, das würde die Autoritäten zuviel Energie kosten. Am Anfang hat ihn die Regierung in Iasi noch halbherzig behindert, wenn er zum Beispiel den Bretterzaun neu machen wollte, oder sie versuchten ihn anderweitig zu schikanieren (zum Beispiel mit Psychotestes für die Schweizer Gruppe), mittlerweilen drücken sie aktiv die Augen zu. Und Ipate selber weiss:er baut die Gebäude mit einem Drittel des Geldes und der dreifachen Qualität, die staatliche Bauprojekte aufweisen.

Sportplatz Verseni. Hintendran das "Schweizer Haus" (ein Magazin, links), der "Club" (Mitte) und das eine der zwei renovierten "Vile" (hinten).

Sportplatz Verseni. Hintendran das „Schweizer Haus“ (ein Magazin, links), der „Club“ (Mitte) und das eine der zwei renovierten „Vile“ (hinten).

Das Gegenbeispiel im Nachbardorf: Sportplatz in Tupilati. Dreifache Kosten, ohne Tribüne oder Basektballkörbe...

Das Gegenbeispiel im Nachbardorf: Sportplatz in Tupilati. Dreifache Kosten, ohne Tribüne oder Basektballkörbe…

Abreissen nein danke

Jetzt will ich mal dieses Verseni sehen 2015, Teil 13.

Seit wir nach Verseni kommen, stehen sie da, die alten Kolchose-Gebäude aus der Ceaucescu-Zeit, eine Anlage beim Abbiegen vom „Asfalt“, der grossen Nord-Süd-Transversale des Landes, eine weitere Anlage steht mitten im Dorf. Jeweils etwa sechs Gebäude, je rund 40 Meter lang, einstöckig, so rotten sie vor sich hin. Und so geht es mit allem Alten, mit dem alten Heimbus wie mit den Bauruinen entlang den Strassen, und so geht es auch dem geplanten Kindergarten im südlichen Dorfteil. Abreissen, verschrotten, entsorgen, umnutzen, das braucht alles Energie, die weder bei den Menschen noch in den kommunalen oder kantonalen Verwaltungen übrig scheint. Oder eben, wie im Fall des alten Heimbusses, mit unsinnigen bürokratischen Hindernissen verkompliziert wird.

Wenn s mal steht…

Der angefangene Kindergarten in Verseni verrottet seit 2012...

Der angefangene Kindergarten in Verseni verrottet seit 2012…

Die schwerste Lektion

Jetzt will ich mal dieses Verseni sehen 2015, Teil 12.

Maria, Ipates Frau, hat in den ersten Jahren des Kinderheims während drei Jahren in Verseni die Primarschüler unterrichtet. Auch sie erzählt eine Geschichte, bei der ihr die Stimme noch heute zu zittern beginnt. Als sie mit ihnen die Buchstaben M und A übte, wollte sie dies mit dem Wort „Mama“ tun.

Maria Ipate. Auch sie hat den Schalk in den Genen. - Foto: Anne Burgmer.

Maria Ipate. Auch sie hat den Schalk in den Genen. – Foto: Anne Burgmer.

„Es wurde zu meiner schwersten und traurigsten Schulstunde aller Zeiten. Im Moment, als ich fragte, was den Kindern zum Wort ‚Mama‘ in den Sinn kommt, wurde mir bewusst, dass ich eine Klasse voller Heimkinder vor mir hatte, und prompt kamen die Fragen: ‚Doamna Ipate, was ist eine Mama? Was tut eine Mama? Wie ist es, wenn man eine Mama hat?‘ Ich wusste gar nicht was sagen, ich versuchte das Gefühl mit einem weichen Katzenfell zu vergleichen, aber mir rannen die Tränen über das Gesicht.“

Wenn Du selber mal Heimleiter bist…

Jetzt will ich mal dieses Verseni sehen 2015, Teil 11.

Schon in den ersten Jahren des Kinderheims Verseni wollte Ipate als Erzieher die Situation der Heimkinder einsetzen und beschwerte sich beim damaligen Heimleiter. „Geh mir aus den Augen mit diesem Mist. Solange ich Heimleiter bin, mach ich was ich will. Falls du selber mal Heimleiter werden solltest, kannst du es dann anders machen. Aber mit dieser aufmüpfigen Einstellung wird das kaum je der Fall sein.“ Noch heute ist die Wut in Ipates Augen zu sehen, wenn er das erzählt.

Hat heute gut lachen. Und er weiss, was Durchhalten heisst...

Hat heute gut lachen. Und er weiss, was Durchhalten heisst…

…Und eine halbe Stunde später kommt er auf die Geschichte zurück. „Der Heimleiter von damals besuchte mich 2004 einmal hier und sagte anerkennend, es gehe den Kindern ja jetzt richtig gut und ich hätte ja auch neue Häuser und schöne Gärten. Ich wurde sternsverrückt und sagte genau wie er damals ‚Geh mir aus den Augen. Du hättest das auch haben können, wenn du weniger faul und gierig gewesen wärst.‘ Ich warf ihn wortwörtlich aus dem Heimgelände und sagte ihm, er solle sich nie wieder hier blicken lassen, er sei eine Schande für Rumänien – nein, das letzte habe ich nicht gesagt, aber ich hätte es sagen sollen.“

Wie es zum Kinderheim Verseni kam

Jetzt will ich mal dieses Verseni sehen 2015, Teil 10.

Auch auf dieser Reise mit den Erwachsenen erfahre ich wieder neues. Zum Beispiel über die Entstehung des Kinderheims Verseni: Ende 70-er Jahre erhielt das 1200-Seelen-Dorf Verseni eine neue Schule (die bis ins Jahr 2005 das einzige 2-stöckige Haus in Verseni blieb), und da in Rumänien grundsätzlich nichts abgerissen wird (Zahlloses Bauruinen entlang der Strassen sind stumme Zeugen davon), stand die alte Schule einige Jahre leer.
1988 fiel der Entscheid, zwischen den Städten Pascani und Roman ein Kinderheim zu eröffnen, und so nützte man die alte Schule in Vereni dafür.

Bei solchen Geschichten kratzt sich ja ein Pferd am Ohr... - Foto: Anne Burgmer.

Bei solchen Geschichten kratzt sich ja ein Pferd am Ohr… – Foto: Anne Burgmer.

80 Kinder wurden in 4 Schulzimmer einquartiert. Natürlich gab es nichts wie Kleiderschränke oder Nachttischchen, die eigenen Kleider dienten als Kissen für die Nacht. Kinderheim und Schule waren unter der selben Verwaltung, und Ipate arbeitete vom ersten Tag an als Erzieher im Kinderheim Verseni.

Bereits ein Jahr nach der Eröffnung begann die Revolution, gefolgt von „Zehn Jahre Chaos, die waren schlimmer als in der Ceaucescu-Zeit“, erinnert sich Ipate. „Jeder raffte für sich, was er in die Finger kriegen konnte, weil schlicht keine Ordnung mehr bestand.“

 

Gegenwelt Kirche

Jetzt will ich mal dieses Verseni sehen 2015, Teil 9.

„Es wäre gut, wenn mehr Schweizer dies einmal sehen und erleben würden“, sagt der sichtlich bewegte Remo, Vater eines Jugendlichen, der sich seit drei Jahren in der Gruppe Jugendlicher engagiert.

Auch Remo muss einiges verdauen. Zum Beispiel, als wir ein paar Moldau-Klöster besuchen, die herausgeputzt sind und vor Frieden und Reichtum nur so strahlen. Ein manchmal fast unerträglicher Widerspruch zum ärmlichen Alltag der Menschen hier.
Heimleiter Ipate verstärkt diesen Eindruck noch, wenn er erzählt, dass sich die orthodoxe Kirche nullkommanull sozial engagiert, trotz ihres unermesslichen Reichtums an Finanzen und Ländereien. Es sind nur Projekte aus katholischer oder evangelisch-reformierter Herkunft, welche sich sozial einsetzen.
Wenn man dann vor diesen Klöstern steht, die zum UNESCO-Welterbe zählen, gilt es das erst mal zu verarbeiten.

Kerzen für die Lebenden und für die Toten begegenen einem überall.

Kerzen für die Lebenden und für die Toten begegenen einem überall.

Und doch bleibt die Kirche eine Organisation, welche tief in den Herzen der RumänInnen verankert bleibt. Die Anzahl neuer Kirchen, zum Teil mit goldig blitzenden Kuppeln, fallen ins Auge. „Es sind die Amtsträger der Kirche, in welche die Menschen kein Vertrauen haben, das Gottvertrauen ist weiterhin da“, sagt Ipate. Und drum setzen sie Geld manchmal lieber für die Renovation ihrer Dorfkirche ein statt zum Beispiel für eine neue Schule oder eine Brücke: Das ist Aufgabe des Staates, aber die Kirche geht uns alle an. Zu schade, dass diese Fürsorge nur eine Einbahnstrasse ist und von kirchlichen Autoritäten nicht erwidert wird.